„Ihr sollt vollkommen sein …“ Mt 5,48

„Ihr sollt vollkommen sein, wie eurer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Mt 5,48
So hat es Jesus gesagt. Und es passt scheinbar ja auch gut in eine Zeit, die vom immer „besser, höher, weiter“ bestimmt wird.  Nach der Optimierung im Wirtschaftsleben, ohne die ein Betrieb keine Chance auf dem Weltmarkt zu haben scheint, kommt immer stärker die Aufforderung zur Selbstoptimierung. Und wenn schon kein anderer ruft: Mach es besser – so ruft man es sich oft genug selbst zu. Der Begriff des „inneren Antreibers“ hat längst die psychologische Literatur erobert, meist im Zusammenhang mit übertriebenem Perfektionismus, Burn-out und Zwangsstörungen.
„Ihr sollt vollkommen sein – wie Gott!“ – Wie Gott??? Wenn die Messlatte so hoch hängst, wer soll sie erfüllen? Oder ist sie gar nicht zu erfüllen, soll der Satz aus Mt 5 uns Menschen nur zeigen, wie unvollkommen wir sind, damit wir uns in unserer Unvollkommenheit umso mehr an Gottes Vergebung halten? Steht das „Ihr sollt vollkommen sein“ also im Zusammenhang mit dem, was Theologen als überführenden Gebrauch des Gesetzes, als usus elenchticus oder theologicus, bezeichnen?
Auf kirchlicher Ebene gibt es den Satz: Hervorragende Qualität ehrt Gott und inspiriert den Menschen. So jedenfalls die Gemeinde Willow-Creek aus den USA. Damit soll ausgesagt werden, dass man sich mit der Gestaltung von Gottesdiensten oder anderer kirchlicher Veranstaltungen echte Mühe geben sollte. Ein alle überfordernder Perfektionismus soll damit nicht ausgesprochen sein – aber es lässt sich nicht leugnen, dass man den Satz entsprechend fehldeuten kann. Gerade für hartnäckige Perfektionisten ist es die Einladung, an allem rumzumäkeln, was sie – gedacht oder wirklich – schon mal anderswo besser gesehen haben oder sich als besser vorstellen können.
Bleibt die Frage: was hat Jesus eigentlich gemeint, als er die Worte sprach? Was ist „vollkommen“?
Nun muss man bei Bibelworten natürlich immer zuerst fragen, was denn in der biblischen Ursprache dort steht. In diesem Fall steht für „vollkommen“ das griechische „teleios“. Teleios ist ein Eigenschaftswort, das von „telos“ abgeleitet ist: „Ende“, „Ziel“.
Reinhard Deichgräber, Theologe aus Hermannburg, übersetzt „teleios“ daher mit „zielig“, also etwas wie „zielstrebig“, „zielgerichtet“ – jemand, der erst zufrieden ist, wenn er am Ziel ist, der aber auch „nicht das Ziel aus dem Auge verliert, der nicht am Ziel vorbeischießt, der nicht halbfertig oder unreif ist.“ (Deichgräber, Niemand muss vollkommen sein. S. 25ff)
Das deutsche „vollkommen“ kommt dem in seiner ursprünglichen Bedeutung recht nahe: Die Vorsilbe „voll-“ ist eine Partizipialbildung eines Tätigkeitswortes, das die indogermanische Wurzel *pel hat, was so viel wie „gießen, schütten, füllen“ heißt.
„Voll“ meint also „gefüllt“, etwas ist bis zum einem Ziel oder gemeinten Ende gekommen. Das mittelhochdeutsche Wort „volkomen“ meint entsprechend „zu Ende führen“, „vollendet werden“. „Vollkommen“ meint also, dass jemand wirklich durchhält bis er ans Ziel gekommen ist.
Schauen wir noch einmal in den griechischen Urtext, stoßen wir auf eine kleine Überraschung. Was Luther mit „ihr sollt … sein“ übersetzt, heißt dort wörtlich: „ihr werdet … sein“ – also ein Futur! Deichgräber, selbst exzellenter Sprachwissenschaftler und Kenner sowohl des Biblischen Griechisch als auch des Hebräischen, verweist darauf, dass es in der semitischen Sprache, in der Jesus gesprochen hat, keine eindeutige grammatische Form für „Sollen“ oder „Werden“, auch nicht für „Müssen“, „Dürfen“ oder „Können“ gibt. Was jeweils gemeint ist, konnte man dem Klang der Stimme entnehmen, bzw. bei geschriebenen Texten dem Zusammenhang. Wie Jesus das damals betont hat, wissen wir natürlich nicht – aber den Zusammenhang hat Matthäus uns dankenswerterweise überliefert.
Der Satz begegnet in einer längeren Passage, in der es um Gottes große Barmherzigkeit und Liebe geht: Gott lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und die Guten.
Ähnlich sollen nun die Jünger Jesu die Menschheit nicht aufspalten in Freunde und Feinde, sondern auch die Nicht-Freunde lieben. Gott „benachteiligt niemanden, und darin sollen sich Jesu Jünger als echte Gotteskinder erweisen (Vers 45), als Menschen, denen der himmlische Vater das göttliche Gen seiner göttlichen Barmherzigkeit weitergegeben hat. Die schrankenlose Gottesgüte ist Ziel und Maßstab; hier gilt es, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, und das ist etwas ganz anderes als Perfektion und Fehlerlosigkeit.“ (Deichgräber, aaO 28).
Es geht also nicht um Perfektion, sondern um Barmherzigsein!
Diese Auslegung wird bestätigt, wenn wir uns die entsprechende Textstelle im Lukasevangelium ansehen. Lukas und Matthäus haben viele Worte Jesu gemeinsam überliefert, wenn auch nicht immer in demselben Umfang oder an derselben Stelle in ihrem Evangelium. Aber ein Vergleich lohnt hier. In Lk 6,36 endet die Passage von der Feindesliebe mit den Worten: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Was bei Matthäus teleios, „vollkommen“ heißt, hat Lukas mit „barmherzig“, Griechisch: „oiktirmon“ wiedergegeben. Gemeint ist der Sache nach dasselbe. Die Vollkommenheit, das Ziel der persönlichen Entwicklung der Jesusnachfolger, ist, dass sie barmherzig miteinander und mit anderen sind. Und das fängt oft genug damit an, dass man barmherzig mit sich selbst umgeht. Wie Jesus sagte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!

Eine letzte Frage: Jesus selbst sprach weder Deutsch noch Griechisch, sondern ein semitisches Aramäisch. Was könnte hinter den bei Matthäus und Lukas zu findenden Ausdrucksvarianten ursprünglich stehen? Was hat Jesus in seiner Muttersprache denn nun gesagt?
Dazu fand ich einen interessanten Hinweis von Prof. Eberhard Nestle. Nestle hatte sich lange über den Unterschied der griechischen Wortwahl bei Matthäus und Lukas gewundert.  Er fand dann in der semitischen Wurzel שלם (oft wiedergegeben mit Friede (εἰρήνη), Gnade (χάρις), oder eben auch mit τελειος, die Verbindung von teleios (Mt) und oiktirmon (Lk). Er schreibt: „Ich habe keinen Zweifel: wie ελεος Matth. 23,23 auf der einen, αγαπη Luk. 11,42 auf der andren Seite, die beiden Bedeutungen ausdrücken, die für Indogermanen in dem einen semitischen Wort רחם liegen, so entspricht τελειος in Matthäus und οικτιρμων in Lukas einem und demselben שָׁלֵם.“ Quelle: http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=urn:nbn:de:bsz:21-dt-7848|log00053&physid=phys00718#navi vom 12.2.2019 Original: Theologische Studien und Kritiken, 1896, S. 737ff
Seid gut (zueinander), seid freundlich, seid gnädig, gewährt Frieden, seid friedliebend, wünscht dem anderen Wohlsein, wünscht ihm Heil, das sind die Bedeutungen, die bei einem Adjektiv der Wortwurzel  שלם sicherlich mitschwingen. Solche Haltung hat Gott uns Menschen gegenüber, darum soll sie auch unser Ziel, unsere Haltung, sein. Was könnte schöner im Umgang miteinander sein? So ist das, was wirklich barmherzig ist, auch das, was wahrhaft vollkommen ist.